Vor sechs Wochen konnten noch Pläne geschmiedet werden. Und nun Ausnahmezustand. Grenzen dicht, Flugzeuge am Boden, Busse und Bahnen stehen verlassen in der Werkhalle. Unternehmen liegen still, kein großartiger Verkehr auf der Straße, die Leute sitzen zu Hause. Politiker*innen werden zu scheinbaren Krisenmanager*innen oder zeigen erst recht ihre Unfähigkeit. Medien überschlagen sich mit Meldungen und Doktor*innen werden zu Popstars. Wer hätte das gedacht ? Ein Virus stellt die Welt auf den Kopf. Aber trotz aller Angst und Unsicherheit sehe ich auch positive Dinge. Es gab keine bessere Zeit, um ein Runde mit dem Rad zu drehen (sofern denn keine Ausgangssperre vorliegt). Selten habe ich mich so sicher dabei gefühlt. Auch für Misanthropen ist ein goldenes Zeitalter angebrochen. Endlich halten die Mitmenschen Abstand und wenn nicht, dann darf sogar gepöbelt werden. Zudem hege ich die Hoffnung, dass, nachdem der erste Ärger überwunden wurde, diese erzwungene Entschleunigung wenigstens etwas zum Nachdenken über all die Absurditäten unserer Zeit anregt. Vielleicht ergeben sich zudem neue Ideen und Ansätze die Zukunft besser zu gestalten, anstelle in alte Muster zurückzufallen. Besonders freue ich mich auf eine hoffentlich wahre Flut neuer kreativer Erzeugnisse nachdem diese Krise überwunden wurde. Ich bin beispielsweise gespannt, wie viele großartige Bands die Zeit für ein neues Album nutzen. Positive Seiten einer Krise. Wer hätte das gedacht ?
So geht es in dieser besonderen Zeit nicht, wie sonst, von Hinten durch die kalte Küche, sondern ich zäume das Pferd von vorn auf. Ich sitze seit nun vollen drei Wochen in dem netten YHA Hostel in New Plymouth, Taranaki. Um mich herum gibt es noch 11 weitere Schicksalsgenoss*innen. Aufgrund der Corona-Krise gibt es seit dem 28. März einen sogenannten “Lockdown” in Neuseeland. Außer den zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Grundversorgung beitragenden Unternehmen sind alle weiteren geschlossen, was bedeutet, dass auch keine Online-Bestellungen möglich sind. Es ist der Bevölkerung immerhin noch gestattet Einkäufe zu erledigen und spazieren zu gehen. Die Grenzen sind geschlossen und selbst die Ausreise wird durch einen stillgelegten öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) erschwert. In gut zehn Tagen wird die Regierung entscheiden, ob der Zustand beibehalten oder aufgehoben wird. Wie hat es mich nun nach Taranaki, der, laut Lonely Planet 2016, drittschönsten Gegend der Welt verschlagen ?
Nachdem ich in Auckland ankam, ging es in das CBD der Stadt. Im Hostel untergekommen, schaute ich mir für einen Tag die Stadt an, welche mir nicht besonders aufregend erschien. Meiner weiteren Aufmerksam galt danach eine Arbeit zu organisieren. Ich legte mir eine neue SIM-Karte zu, beantragte eine Steuernummer und eröffnete ein Bankkonto. Letzteres war gar nicht so einfach, da nicht jede Bank Work & Holiday-Maker willkommen heißt. Letztlich zeigte sich die Kiwi-Bank gnädig und zudem unkomplizierter als erwartet. Da das Wetter am Ende des Sommers noch sehr gut war, beschloss ich vor Arbeitsantritt noch ein oder zwei Wanderungen durchzuführen. Ich entschied mich für die noch aktiven Vulkane Tongariro und Taranaki auf der Nordinsel des Landes. Wie der Name erkennen lässt ist die Kultur der Maori (Ureinwohner*innen) wesentlich präsenter, als in Australien. Die meisten öffentlichen Plätze werden in beiden Sprachen präsentiert. Es macht also durchaus Sinn, sich näher mit der Kultur auseinanderzusetzen.

So ging es nach einem weiteren Tag der Organisationsarbeit mit dem Bus zu dem Ort “National Park”, nahe dem Tongariro National Park. Der überregionale ÖPNV im Land besteht weitestgehend aus Bussen. Dort angekommen bereitete ich meine Wanderung vor. Ich buchte einen Shuttle-Bus, welcher mich vom Hostel zum Visitor Center und Startpunkt der Wanderung bringt. Zudem kaufte ich letzte Lebensmittel ein, schließlich handelte es sich um eine Viertageswanderung, der sogenannte “Tongariro Northern Circuit”. Wesentlich beliebter und stark begangen ist allerdings die Eintagestour, welche den Tongariro quert („Tongariro Crossing“). Diese Tour ist auch eine Etappe des Circuit. Stark begangen bedeutet zwischen 1000 – 2000 Personen pro Tag. Zu Spitzenzeiten auch 4000. Bei strahlendem Wetter begann ich meine Wanderung, nachdem mich der Shuttle am gewünschten Punkt absetzte. Der erste Tag beinhaltete nur eine kurze dreistündige Tour bis zu ersten Hütte („Mangatepopo-Hut“). Die Wanderung zählt zu den “Great Walks”, was heißt, dass die Wege sehr gut ausgebaut und betreut sind (entsprechend touristisch vermarktet). Es gibt zahlreiche Hütten sowie Zeltplätze unterwegs und diese sind in ausgezeichneten Zuständen. Mir erscheint, dass Outdoor-Aktivitäten wie Wandern, als touristische Attraktionen in Neuseeland eine wesentlich größere Rolle spielen, verglichen mit Australien. Der Weg war sehr gut markiert, sodass meine Vorbereitungen (Kartenmaterial, Kompass) vergebens waren. Im Vergleich zur letzten Tour im Wilsons Promontory lag vor mir der rote Teppich aus 🙂 Angekommen an der Hütte gab es eine weitere Besonderheit. Die Hütten werden von Wärter*innen (Ranger) betreut. Diese arbeiten in einem achttägigen Rhythmus, d.h. leben acht Tage lang in der Hütte, heißen die Gäste willkommen, geben Informationen über Fauna, Flora und Wetter, helfen bei Notfällen und halten die Hütten in Schuss. So wurde ich am ersten Tag von Linda, der Hüttenwärterin der Woche begrüßt. Im Laufe des Nachmittags füllte sich die Unterkunft mit weiteren Personen. Um kosten zu sparen, buchte ich mir jedoch keinen Schlafplatz in, sondern einen Zeltplatz neben der Hütte. Allerdings war es mir erlaubt, die Einrichtung der Hütte, wie z.B. Gaskocher oder Waschplatz, zu nutzen. So genoss ich den sonnigen Nachmittag und kam mit einem Local ins Gespräch. Auf dem Weg fand ich neben einem Kugelschreiber auch eine volle Literflasche mit Wasser. Nach kurzer Überlegung nahm ich das weitere Kilogramm (ich hatte wie immer etwas übertrieben und mein Equipment wog samt Lebensmittel bereits ca. 20 kg) auf mich. Entweder ich werde es unterwegs wieder los und mach, eine kurz vor dem Verdursten stehenden Person glücklich, oder ich habe am Abend frisches Trinkwasser. Nach ungefähr einer Stunde stieß ich schließlich auf eine Gruppe bei der Mittagsrast und fand den Eigentümer der Flasche. Mit diesem kam ich nun an der Hütte ins Gespräch. Er ist ein Maori und zugleich vom Beruf ein Tour-Guide. So erhielt ich im Gespräch einen ersten Einblick über die Kultur der Ureinwohner*innen und als Dank eine Einladung zu einer Tour in seine Gegend (Rotorua). Linda wiederum stellte uns allen am Abend die umliegende Natur und deren Bedeutung für die Maori vor. So gibt es neben dem Mnt. Tongariro noch weitere Vulkane wie den Mnt. Ngauruhoe oder den Mnt. Ruapehu. Alle Gipfel sind für die Maori heilig (Götter) und sollten daher nicht bestiegen werden. In manchen Gegenden wie hier, wird es streng empfohlen (beispielsweise von den Rangern), in anderen Gegenden nicht. Des weiteren sind die Vulkane noch aktiv. Der letzte große Ausbruch fand 1954 am Ruapehu statt. Zuletzt waren sie 2012 aktiv. Weiterhin zählte die gesamte Gegend um den Tongariro National Park zu den Filmkulissen des Klassikers “Herr der Ringe”.



Der zweite Tag war der Planung nach mit der Querung des Tongariro der Anstrengendste. Zugleich ist dies auch der Tag mit den meisten Menschen auf dem Weg. Ich erhielt von Linda den Tipp, möglichst spät zu starten, da die Eintagestouristen zwischen 6 Uhr und 11 Uhr ihre Wanderung an der Mangatepopo-Hütte beginnen. Da es nicht erlaubt ist länger als vier Stunden am Startpunkt der Eintagestour zu parken (sie dauert ca. 8 h), müssen die Wanderer ebenfalls mit einem Shuttle-Bus anreisen und jene operieren in diesem Zeitraum. Nichts leichteres als das 🙂 So schlief ich aus, frühstückte in Ruhe und startete gegen 10.30 Uhr. Bis zum oberen Ende des Passes (der Gipfel des Mnt. Tongariro wird nicht bestiegen, sondern er, sowie der Mnt. Ngauruhoe werden beim Durchlaufen eines Sattels nur gestreift), war es im Anschluss sehr ruhig und der Aufstieg verlief einfacher als erwartet (trotz Gepäck, mensch bin ich fit !). Am höchsten Punkt angekommen breitete sich dann das Elend vor mir aus. Mindestens 300 Menschen lagen beim Mittag verstreut. Und dies war nur die letzte Meute des Tages. Ich denke also die erwähnten 2000 Leute pro Tag sind nicht übertrieben. Ich entschied noch etwas weiter zu wandern und an einem ruhigeren Teil des Weges eine Rast einzulegen. Beim Durchlaufen der Massen erblickte ich glotzend, fragende Gesichter, sicherlich wegen meines “leichten” Gepäcks (ich denke die meisten Leute wissen nichts von der Mehrtagestour und meinen, es handelt sich um einen Tagesrucksack). Der Sprache nach vernehmend, würde ich 50 % der Leute aus dem deutschen und die anderen 50 % aus dem französischen Sprachraum herkommend schätzen. Nach einer halbstündigen Rast am “Blue Lake” setzte ich den restlichen Teil der Tagesetappe fort. Unterwegs musste ich erstaunt an einem Teil des Berges stehenbleiben, wo konstant Schwefelgase ausströmen. In meinem Kopf entwickelte sich spontan ein gigantisches Vulkanausbruchsszenario. Am späten Nachmittag erreicht ich die „Oturere-Hütte“. Hier begrüßte mich der Ranger Sam. Zu meiner Überraschung und Freude ein anarchistischer Hüttenwärter aus Wellington. So war das Gesprächsthema des Abends gesetzt und eine Einladung für Wellington erteilt.


Der dritte Tag behielt eine erneut kurze Etappe für mich bereit. Aus diesem Grund startete ich erneut spät am Morgen und näherte mich der „Waihohonu-Hütte“ zum frühen Nachmittag. Wie auch die anderen Ranger begrüßte uns Marcel sowohl in Maori, als auch in Englisch. Im Anschluss führte er uns auf eine einstündigen Entdeckungstour um die Hütte und stellte uns zahlreiche Sträucher, Beeren und Kräuter vor, sowie deren Gebrauch und Nutzen. Am Abend unterhielt ich mich schließlich mit anderen Wanderern, z.B. einer Ärztin aus Frankreich (fachsimpeln über Corona) oder einigen Locals aus Wellington.

Der letzte Tag der Wanderung sollte der Längste sein. Leider verschlechterte sich das Wetter und es war windig und kalt, mit kurzen Regenschauern. Ich war, was ich beim Wandern überhaupt nicht mag, etwas unter Zeitdruck, da mich der Shuttle-Bus zurück zum Hostel am Nachmittag erwartete. Folglich war das Wetter gar nicht so schlecht, denn ich rannte förmlich den Weg entlang. Mit einer guten Geschwindigkeit von 5 km/h legte ich die 20 km in knappen vier Stunden zurück. Unterwegs hielt ich für ein paar Fotos kurz am “Lower Tama Lake”. Aber der Wind war so stark, dass nur einige schlechte Smartphone-Fotos heraussprangen. Letztlich erreichte ich ca. 90 Minuten vor der geplanten Rückfahrt den Ausgangspunkt der Wanderung und gönnte mir einen unverschämt teuren Kaffee in einem kleinen Restaurant. Zufrieden war ich dann doch mit meinen Gepäck. Meine Verpflegung war, bis auf die empfohlene Notration, komplett aufgebraucht.

Zurück im Hostel plante ich meinen nächsten Tourabschnitt und ging seit langem mal wieder Klettern. Das Hostel in National Park besitzt eine Indoor-Kletterhalle und glücklicherweise fand ich eine Mitstreiterin und einen Mitstreiter, um ein paar Routen auszutesten. Mein nächstes und gleichzeitig vorerst letztes Ziel hieß Mnt. Taranaki, ein weiterer großer Vulkan im Westen der Nordinsel nahe der Stadt New Plymouth. Leider gab es keine direkte Verbindung, sodass ich zunächst mit dem Bus nach Whanganui und fort dort nach New Plymouth fuhr. In Whanganui nutzte ich die kurze Zeit für einen Besuch der lokalen Art-Gallery und verweilte ein wenig bei gutem Wetter am „Whanganui-River“. In New Plymouth angekommen bahnte sich Unheil an. Zum einen gab es eine Schlechtwetterperiode von ca. fünf Tagen, an dem keine Wanderung am Taranaki möglich war. Auch hier plante ich erneut mit ungefähr drei bis vier Tagen. Zudem flammte nun die Corona-Krise so richtig auf. Bisher von mir weitestgehend noch ignoriert (das ist irgendwo in Asien) verfolgte ich mit Schrecken die Nachrichten aus Europa, welches nach den extremen Ereignissen in Italien und Spanien bereits in Schockstarre lag. Langsam dämmerte es mir, dass auch Neuseeland nicht von dieser Entwicklung verschont bleiben wird. So bereitete ich mich seelisch und moralisch darauf vor und überprüfte meine Optionen. Kurz danach gab auch schon die Ankündigung der Regierung über den bevorstehenden Lockdown. Während viele Gäste des Hostels noch verzweifelt versuchten in Richtung Amerika oder Europa zu entkommen, bot die Hostelleitung an, die nächsten Wochen in New Plymouth zu einem vergünstigten Preis zu bleiben. Nach Horrorgeschichten anderer Reisenden, die sich seit Tagen bemühen einen Flug und/oder einen Transport zum Flughafen zu organisieren, von spontan gestrichenen Flügen oder mit auferlegten Restriktionen während der Reise und damit verbunden hohen Reisekosten, entschied ich mich zunächst in Neuseeland auszuharren. Eventuell ist dies keine gute Entscheidung, vielleicht doch. Wer weiß ? Aktuell ist nichts wirklich vorhersagbar. Auch wenn ich mich bisher nicht wirklich vor dem Virus fürchte, fühle ich mich aufgrund der Größe und Gegebenheiten des Landes, sehr sicher in Neuseeland. Das einzige Risiko für mich sind die zur Neige gehenden finanziellen Ressourcen. Diese werden letztlich einen gewichtigen Teil über den weiteren Verlauf der Reise spielen. Aber ich bin guter Dinge dafür eine Lösung zu finden. Leider muss ich mich damit Abfinden, einen „Sack in Australien hängen zu lassen“. Aus der Besichtigung des Northern Territory wird unter den gegebenen Umständen definitiv nichts mehr. So heißt es nun die Zeit zu nutzen, durchzuatmen, zu reflektieren und abzuwarten. Klingt ja eigentlich nicht schlecht…

